GAL zum 1. Mai 2020

Antje Jansen hält die Rede der GAL zum 1. Mai

Liebe Freundinnen und Freunde!
Der 1. Mai ist seit vielen Jahren und überall auf der Welt der Tag, an dem die Arbeiterinnen und Arbeiter für ihre Rechte auf die Straße gehen. Im Lauf der Geschichte hat er sich verändert, weil sich die Welt verändert hat und mit ihr unser Selbstverständnis. Die Begriffe haben sich verschoben. Wo früher klar war, der 1. Mai ist der internationale Kampftag der Arbeiterklasse, da haben sich inzwischen viele Begriffe aufgelöst. Zum Teil, weil sie tatsächlich überholt sind, und zum Teil nur, weil wir aufgehört haben, über die Wirklichkeit hinter ihnen nachzudenken.
Nicht verändert hat sich, dass wir am 1. Mai für menschenwürdige Lebensbedingungen für alle auf die Straße gehen, gegen Rassismus und Faschismus, gegen die Verfolgung von Minderheiten, gegen die Ausgrenzung von Flüchtlingen, gegen die Zerstörung der Umwelt. Das haben wir immer so gehalten.

Aber dieser 1. Mai ist anders. Wir sind nicht viele wie sonst, sondern wenige. Dieser Mai steht im Zeichen der Corona-Krise, die uns von der Straße treibt und in unsere Wohnungen einsperrt. Der DGB hat deshalb auf seine traditionelle Mai- Demonstration und -kundgebung verzichtet. Stattdessen finden seine Aktionen nur virtuell statt, im Internet.
Corona ist gefährlich. Zuallererst natürlich, weil der Corona-Virus unsere Gesundheit angreift, er bedroht unser Leben. In Deutschland haben wir inzwischen mehr als 6.000 Todesopfer, und es scheint ja so, als kämen wir hier im internationalen Vergleich noch sehr glimpflich durch die Pandemie. Das ist eine Momentaufnahme.
Im Moment weiß niemand, wie sich das weiterentwickeln wird, wenn die
Kontakteinschränkungen weiter gelockert werden. Und was derzeit in der Welt geschieht, wo vor allem in den armen Ländern Millionen Menschen dem Virus weitgehend mittellos ausgeliefert sind, das ist einfach furchtbar.
Corona ist aber auch gefährlich, weil es über die nackte Gesundheit hinaus auch unser Zusammenleben und unsere sozialen Zusammenhänge angreift und zerstört.

Die sogenannte Wirtschaft liegt am Boden und die Kurzarbeit täuscht nur schlecht darüber hinweg, dass mindestens im Moment Millionen Menschen ihre Arbeit verloren haben und vielleicht dauerhaft verlieren werden, aktuell liegt die Zahl der Kurzarbeitenden bei etwa zehn Millionen.
Und für diejenigen, die noch Arbeit haben, sind die Belastungen und Bedingungen oft an der Grenze des Erträglichen und Zumutbaren.
Neu ist, dass wir die »Helden der Arbeit« wiedererfunden haben. Scheinbar plötzlich und unerwartet haben wir entdeckt, dass die Beschäftigten in der Pflege, die Kassiererinnen in den Supermärkten und die Auslieferungsfahrer bei den Paketdiensten tatsächlich »systemrelevant« sind. Und genauso plötzlich und unerwartet stellen wir fest, das sind die Menschen, die tief im unteren Bereich der Löhne arbeiten.
Was für ein Zynismus steckt dahinter, wenn wir ihnen Beifall klatschen und es weitergeschehen lassen, dass sie schlecht bezahlt werden, in unsicheren Arbeitsverhältnissen stecken und oft unter unerträglichen Bedingungen arbeiten müssen.
Beifall ist nett, aber er genügt nicht. Es muss sich etwas ändern.
Und ganz besonders zynisch ist es, wenn nach 15 Jahren plötzlich gemerkt wird, dass das Hartz-IV-System eine menschenunwürdige Bürokratie-Maschine zur Armutsverwaltung ist, die Menschen zerstört. Dazu war es nötig, dass Corona die Existenzbedingungen der freischaffenden Künstler weggewischt hat – und damit eben in die Mühlen dieser Bürokratie geraten. Zynisch ist nicht, dass die Künstler selbstverständlich Geld zum Leben brauchen – zynisch ist, dass wir 15 Jahre weggesehen haben.
Aber es ist eben so, dass es dieses »Wir« gar nicht gibt. Die soziale Spaltung unserer Gesellschaft trennt die, die oben sind, von denen, die unten bleiben. Und die Corona-Krise verschärft diese Spaltung.
Die Milliarden, mit denen Bundes- und Landesregierungen plötzlich um sich schmeißen, die kommen schließlich irgendwo her. Und jemand wird am Ende die Rechnung präsentiert bekommen.
Damit wir uns nicht missverstehen: Natürlich muss dieses Geld, der Reichtum unserer Gesellschaft aufgebracht werden, um uns alle durch die Zeit dieser Pandemie zu bringen. Aber es kann nicht sein, dass am Ende wir, die Beschäftigten, die Rentnerinnen und Rentner, die Alleinerziehenden, die Studierenden, also diejenigen, die in der Reichtumsverteilung dieser Gesellschaft unten stehen, die Zeche zahlen müssen durch soziale Streichungen und die Schließung von Einrichtungen.
Diese Krise wird nicht bewältigt, ohne dass wir über die Verteilung des Reichtums sprechen und endlich anfangen, Geld nicht immer nur von unten nach oben verteilen sondern andersherum von oben nach unten .
Nicht nur den Unternehmen brechen die Einnahmen weg, sondern auch den Kommunen. Jeder weiß, dass Städte wie Lübeck hoch verschuldet sind. Mit Corona rollt eine neue Finanzkrise auf die Stadt zu. Und bisher war die Antwort nie die einzig sinnvolle und richtige, nämlich die Kommunen ausreichend zu finanzieren, damit sie ihre Aufgaben für die Gemeinschaft erfüllen können. Bisher wurde immer mit sogenannten Sparmaßnahmen darauf geantwortet, einer hemmungslosen Streichpolitik bei Personal und Einrichtungen.

Da sind aber längst alle Grenzen erreicht und sogar überschritten. Darum brauchen wir eine andere Antwort. Und diese Antwort kann nur in ausreichender Finanzierung liegen. Weniger Geld für neue Jagdbomber und mehr Geld für die Kommunen.
Wir können auch nicht zulassen, dass Corona die Ausrede dafür hergibt, die bisher ohnehin klägliche Klimapolitik wieder umzudrehen. Wirtschaftsvertreter sprechen davon, die Klimaziele noch weiter zu strecken, es gibt die Forderung nach Kaufprämien für Autos. Verkehrswende, Energiewende, alles das muss vorangetrieben werden und nicht aufgegeben.
Es wird kein Zurück zur Normalität geben. Überhaupt nicht, solange es keinen Impfstoff und keine wirksamen Gegenmittel gegen den Corona-Virus gibt. Aber auch dann wird es eine andere »Normalität« sein, in die wir eintreten.
Und wir müssen uns schon heute darum kümmern, wie dieses neue »normal« aussehen wird.
Corona bedeutet nicht, dass unser Kampf für menschliche Lebensbedingungen, gute Arbeitsbedingungen, existenzsichernde Einkommen für alle Menschen in einer nachhaltigen Welt in eine Pause eingetreten ist. Im Gegenteil.
Wir nutzen den 1.Mai schon immer, um zu zeigen, dass wir eine andere, eine soziale und menschenwürdige Gesellschaft wollen. Alle kennen die Forderungen.
Wenn wir nicht aufpassen, dann wird Corona vieles von dem, was wir über Jahrzehnte hart erkämpft haben, einfach umdrehen. Wir sind hier und heute gefordert.
Machen wir uns auf, ein menschenwürdiges Leben für alle und überall zu ermöglichen.

Sich in Zeiten von Corona zu bewegen ist keine Chance sondern eine Notwendigkeit.

Katja Mentz 1. Mai 2020