#BLEIB SICHTBAR

Liebe Freundinnen und Freunde.

Ich bin JenSofia. Ich bin queer, ich bin trans und bleibe sichtbar – und ich freue mich, Euch hier heute die Grüße der GAL zum Lübecker CSD 2021 bringen zu dürfen.

grün-alternativ-links, eben die GAL, ist eine sehr kleine kommunale Wähler:innengemeinschaft. Und ja, wir sind ein bisschen stolz darauf, mit dazu beigetragen zu haben, dass das Aufziehen der Regenbogenfahne vor dem Lübecker Rathaus für die Dauer der CSD-Woche so langsam etwas Selbstverständliches wird. Natürlich bedeutet das leider keineswegs, dass es Homophobie und Transphobie in Lübeck nicht gäbe. Aber das offizielle Lübeck setzt ein kleines Zeichen dafür, dass die LSBTIQ*-Community zu Lübeck gehört und ein Teil unserer Kommune ist. Anders sollte es auch gar nicht sein!

Der Christopher-Street-Day ist von seinem Ursprung her und bleibt ein politischer Tag. Die CSD-Demonstrationen, die in diesem Sommer in vielen deutschen Städten wieder stattgefunden haben, bleiben politische Demonstrationen, auch wenn das hinter dem fröhlichen Spektakel und der demonstrativen Lebensfreude, die wir auch mit den CSD-Demonstrationen verbinden, manchmal ein wenig in den Hintergrund gerät. Denn natürlich ist auch unsere PRIDE, unser Stolz und unser Selbstbewusstsein als queere Community politisch. Wir demonstrieren unseren Anspruch, selbstverständlicher Teil der Gesellschaft zu sein, und wir demonstrieren unsere Solidarität mit den viel zu vielen queeren Menschen in der ganzen Welt, deren Menschenrecht, die zu sein, die sie eben sind, auch weiter brutal und gewaltsam unterdrückt wird.

Der Lübecker CSD-Verein hat sich aus nachvollziehbaren Gründen auch in diesem Jahr entschieden, auf eine eigene CSD-Demonstration zu verzichten. Das ist schade, aber uns bleibt die Hoffnung, dass die Corona-Situation uns im nächsten Jahr auch in Lübeck eine Demonstration wieder möglich machen wird. Der CSD-Verein hat aber nicht darauf verzichtet, eine politische Veranstaltungswoche zu organisieren, in der alle eingeladen sind, das queere Leben in der Hansestadt gemeinsam sichtbar zu machen.

Gestattet mir einen kleinen Ausflug ins Persönliche: Ich kann hier sagen, dass ich mich in Lübeck – für mich ist das die Altstadt und das angrenzende Quartier, in dem ich lebe – relativ angstfrei bewegen kann. Das ist gut, und das ist mehr, als ich erwartet hatte, als ich den Mut fand, mich zu outen. Ich stelle aber auch fest, dass ich natürlich überhaupt nicht das Gefühl habe, mich völlig selbstverständlich und akzeptiert in der Öffentlichkeit bewegen zu können. Ich habe mich vor zweieinhalb Jahren geoutet. Vielleicht ist es einfach meine in dieser Zeit gewachsene Sensibilität und Empfindlichkeit, vielleicht ist es auch die viel zu lange erzwungene Corona-Einsamkeit – ich bin inzwischen im risikobehafteten Alter und erst seit drei Wochen wirksam zweimal geimpft – dass mein Unsicherheitsgefühl eher noch gewachsen ist seither. Jedenfalls muss ich jeden Tag aufs Neue ein bisschen Mut aufbringen, wenn ich mich aus meiner Wohnung hinaus in die Öffentlichkeit bewege. Und ich glaube, das sollte so nicht sein.

Der Grund dafür – mein Problem, wenn es denn eines ist – ist ganz einfach: Mit jedem Schritt in die Öffentlichkeit mache ich mich sichtbar, unvermeidlich sichtbar.

Und das bringt mich unmittelbar vom Persönlichen zurück zum Politischen. Mit #bleibsichtbar stellt der CSD in diesem Jahr die queere Sichtbarkeit in den Mittelpunkt. Das ist ein richtiges und gerade im zweiten Pandemiesommer notwendiges Motto. Sichtbar sein muss heißen: Ohne Angst sichtbar sein. Das erfordert gesellschaftliche Akzeptanz und manchmal vielleicht ein wenig persönlichen Mut, aufzustehen gegen Homophobie und Transphobie. Das ist mit Symbolpolitik und den Regeln der political correctness nicht erledigt. Es erfordert viele kleine und manche große Schritte. Und es lässt sich nicht im Verwaltungswege erledigen, sondern nur durch unser gemeinsames, solidarisches Handeln – hier, heute, jeden Tag und überall. Die queere Community ist ein Teil dieser Gesellschaft mit dem Recht auf ein gleichberechtigtes diskriminierungsfreies Leben. Aber die queere Community ist (in Anführungszeichen) »nur« eine von vielen gesellschaftlichen Minderheiten – und es gibt ganz sicher keine isolierte, auf eine einzige Minderheit beschränkte Gleichberechtigung. Eine Gesellschaft ist insgesamt frei oder eben – allem Anschein zum Trotz – gar nicht.

Mein Wunsch ist, dass die Fahnen, die hier gleich für eine Woche aufgezogen werden, auch in diesem Sinne stellvertretend wehen. Wir bleiben sichtbar, denn wir sind sichtbar.

Vielen Dank.