Zukunft der Pflege in Lübeck sichern – Zwischen Kostendruck und Menschlichkeit
Gemeinsam hatten die Fraktionen SPD und Linke & GAL zu einer öffentlichen Veranstaltung unter dem Titel „Zwischen Kostendruck und Menschlichkeit“ am 01.12.2025 in die Aula der Volkshochschule am Falkenplatz eingeladen. Mehr als 60 Fachleute, Angehörige und Betroffene folgten der Einladung – ein starkes Zeichen für die Bedeutung des Themas Pflege in Lübeck.

„Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen steigt – und mit ihr die Sorge, wie wir das alles finanzieren sollen. Pflegebedürftige alte Menschen werden zunehmend als Kostenfaktor problematisiert. So verläuft leider auch die Diskussion, die wir bisher in der Bürgerschaft und im Sozialausschuss führen. Das möchten wir verändern“, führten Bianca Szygula (Die Linke), Katja Mentz (GAL) und Renate Prüß (SPD) zur Begrüßung ein. „Wir wollen öffentlich mit Expert:innen und Betroffenen über verschiedene Bedarfe von älteren Menschen und eine würdevolle Pflege sprechen.“
„Derzeit wird in der Pflege vielerorts wieder über Rekommunalisierung gesprochen. Hamburg kauft die Einrichtungen von Pflege und Wohnen zurück. Wir in Lübeck haben unsere kommunalen Einrichtungen behalten und im Eigenbetrieb der SIE organisiert – und das ist gut so. Unsere beiden Fraktionen stehen zu den städtischen Einrichtungen. Sie sind unabdingbar für die Daseinsvorsorge aller pflegebedürftigen Menschen unabhängig von Einkommen, Bildung und Herkunft“, so Renate Prüß, sozialpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion.
Pflegebedarf in Zahlen
Zu Beginn der Veranstaltung hielt Prof. Dr. Katrin Balzer von der Universität zu Lübeck, Sektion für Forschung und Lehre in der Pflege, einen Impulsvortrag über aktuelle Entwicklungen und Impulse. So verlief der Anstieg der Anzahl von Personen mit Pflegebedarf in Lübeck seit 2017 mit +52 Prozent höher als prognostiziert – aber geringer als deutschlandweit.
Rund 6 Prozent der Lübecker Bürgerinnen und Bürger haben einen Pflegebedarf. Der Anstieg der Pflegebedürftigkeit betrifft vor allem Pflegegrad 1 und im geringeren Maße die Pflegegrade 2 und 3 – und somit die ambulante Pflege.
Der Anteil von Personen in vollstationärer Pflege sei vergleichsweise höher als im Landesdurchschnitt oder deutschlandweit, berichtete die Expertin.
Die Anzahl der Plätze in vollstationären Einrichtungen habe mit 3271 Plätzen im Vergleich zu 2017 um 4 Prozent abgenommen, während es 139 teilstationäre Plätze im Jahr 2013 gab und damit einen Anstieg um 51 Prozent. Personal konnte in allen Bereichen hinzugewonnen werden.
Wünsche der Betroffenen
Nachdem Frau Dr. Balzer kurz auf den aktuellen Entwurf für ein Gesetz zur Befugniserweiterung und Entbürokratisierung in der Pflege einging, stellte sie noch die Umfrageergebnisse über die Erwartungen der Menschen mit Pflegebedarf an die Pflegeumgebung vor:
Für den Außenraum war den Befragten besonders wichtig: Einbettung in den öffentlichen Raum und in die Nachbarschaft, Zugang zur öffentlichen Infrastruktur, Einladung zum Draußen-Sein („Ruhe und Schönheit der Natur“), Stimulierung zur körperlichen
Aktivität und zum Verweilen, Zugang zu eigenen Außenbereichen, wie Balkon, Terrasse oder Vorgarten, Barrierefreiheit, Vermeidung von Verkehrslärm, gut markierte, von der Umgebung unterscheidbare Fußwege sowie klare, einfach verstehbar Signale.
Für Innenräume zählten die Befragten folgende, ihnen wichtige Aspekte auf: ausreichend Platz (keine feste Quadratmeter-Grenze), eigenes Bad, passende Sanitäreinrichtung, keine Schwellen, eigene Gestaltungsmöglichkeiten, Räume für gemeinsame Aktivitäten, Farbkontraste an wichtigen Stellen (beispielsweise zwischen Räumen), kontaktlose Lichtschaltung, einfach zu handhabende Liftsysteme (z.B. von der Decke), gemeinsame „Wohnzimmer“.
Balance aus Ästhetik und Funktion
Der Vortrag endete mit einem Zitat aus einem Lehrbuch: “Die physische Umgebung in der Gesundheitsversorgung erfordert eine Balance von Ästhetik und Funktion. Zu beachten sind das Design, die Würde, ausreichend Raum für Privatheit und Zuflucht, die Ermöglichung von Wahl und Kontrolle, Sicherheit und Zugang, mit dem Ziel, das Wohlbefinden der Betroffenen und ihrer Familien zu fördern und die Arbeit des Personals zu unterstützen.”
Städtische Senior:Inneneinrichtungen sind ein Pfund

Während der anschließenden Podiumsdiskussion machte Pia Steinrücke, SPD-Senatorin für Wirtschaft und Soziales, deutlich: „Lübecks Bevölkerung wird älter, der Anteil älterer Menschen in der Stadt wächst. Umso wichtiger ist es, die gesamte Altenhilfe so aufzustellen, dass sie älteren Menschen geeigneten Wohnraum und die notwendige Pflege bietet – ob ambulant oder stationär. Wir haben in Lübeck ein breites Angebot der Altenhilfe, das gut vernetzt ist. Unser besonderes Pfund sind die städtischen Angebote der Senior:InnenEinrichtungen (SIE). Allerdings besteht ein hoher Investitionsbedarf: Wir müssen sanieren und teilweise neu bauen. Dabei wollen wir moderne Standards erfüllen sowie mobile und stationäre Angebote verzahnen. Einen städtischen Anteil von 20 Prozent der Plätze in Lübecker Pflegeeinrichtungen vorzuhalten, bleibt auch zukünftig unser Ziel und ein wesentlicher Beitrag zur kommunalen Daseinsvorsorge. Dafür gibt es einen breit getragenen Beschluss der Lübecker Bürgerschaft“ erklärte Senatorin Steinrücke.
Tagespflege gewinnt an Bedeutung
Einblick in die praktische Arbeit gab Jesika Piater, Leiterin einer Senior:inneneinrichtung in Kücknitz. Die Sorgen und Nöte von Betroffenen und ihren Angehörigen sind ihr Alltag. Viele Angehörige würden ihre Familienangehörigen lieber selbst versorgen, aber das hat Grenzen. „Meist müssen ja zwei arbeiten, die eine verdient die Miete, der andere die Lebenshaltungskosten. Da bleibt tagsüber keine Zeit für die Pflege von Angehörigen.“ Deshalb sei auch das Modell der Tagespflege wichtig und auszubauen. Dann würden viele Familien zusammenbleiben können, tagsüber aber entlastet. Außerdem wünsche sie sich mehr Spezialisierung, damit beispielsweise ein pflegebedürftiger Jugendlicher nicht in einer Senior:ineneinrichtung leben müsse. Um Jugendliche und ältere Menschen zusammenzubringen, hat Jesika Piater ein Projekt mit einer Kücknitzer Schulklasse initiiert. „Das macht viel Freude und vielleicht wird durch die persönlichen Begegnungen der ein oder andere später in der Pflege arbeiten.“
Netzwerken und Zusammenarbeit der Akteure in der Pflege
Podiumsteilnehmerin Doreen Boniakowsky vom Gesundheitsnetzwerk Lübeck und Umgebung e.V., betonte die Wichtigkeit des Netzwerkens und der Zusammenarbeit zwischen städtischen und freien Trägern in der Pflege, damit sich Angebote gut ergänzen und breiter aufgestellt werden können. So benannte sie die sozialraumorientierte Pflege als wichtigen Ansatz, wobei die Hansestadt Lübeck koordinierend Unterstützung leisten könne.
„Dafür fehlen uns leider die finanziellen Mittel und das Personal“, entgegnete Senatorin Steinrücke. „Für die Entwicklung von quartiersbezogenen Strukturen haben wir – entgegen unserer Empfehlung im Armuts- und Sozialbericht 2024 – leider keinen politischen Auftrag erhalten“, stellte Senatorin Pia Steinrücke bedauernd klar.
Stambulanz und Sozialraumorientierung
Im Mai 2024 hatte die Bürgerschaftsmehrheit, bestehend aus CDU, Grünen und FDP einen Antrag der Fraktionen SPD & FW, Linke & GAL abgelehnt, der den Ausbau der Sozialraumorientierung in Lübeck konzeptionell und die Einführung als grundsätzliches Strukturprinzip für soziale Dienstleistungen vorsah.
Alle Pflegefachleute auf dem Podium waren sich einig, dass die sogenannte „Stambulanz“, also die stationäre Vollzeitpflege, Tages-, Kurzzeit- und ambulante Pflege zusammengedacht werden müssen und den entscheidenden Ansatz für ein gutes und bedarfsgerechtes Angebot in Lübeck darstellt. Der Quartiersbezug müsse gestärkt und tragfähige Netzwerke von professionellen Fachkräften und Unterstützung aus dem familiären und nachbarschaftlichen Umfeld geknüpft werden.

Auf die Frage des Moderatoren Marco Sander, wie dies zukünftig gelingen könne, plädierte Frau Dr. Renate Schleker, Podiumsteilnehmerin für den Beirat für Senior:innen: „Einfach mal die Augen aufmachen, wie geht’s meiner Nachbarin? Fürsorge füreinander und Mitmenschlichkeit wiederentdecken, wo sie verschüttet scheint. Das macht doch unsere Gesellschaft aus.“
„Ebenso wie in der Stadtplanung und bei der Planung neuer Quartiere die Bedarfe an Kita- und Schulplätzen mitgedacht werden, muss es auch generationsübergreifende Angebote und Begegnungsorte in den Quartieren geben, um nachbarschaftliches Engagement zu unterstützen“, betonte Katja Mentz (GAL) in ihrem Schlusswort, nach dem zweistündigen intensiven Austausch sowie Fragen und Statements aus dem Publikum.
Öffentlicher Austausch wird fortgeführt
„Wir bedanken uns bei allen Podiumsteilnehmenden und Gästen. Unsere Fraktionen SPD, Linke & GAL bleiben auf jeden Fall weiterhin am Thema und werden den Austausch mit vielen Kooperationspartner:innen auch im kommenden Jahr fortsetzen. Dies war nicht die letzte Veranstaltung.“